Frühkindliche Reflexe
Der Asymmetrische Tonische Nackenreflex (ATNR)
Entsteht ca. in der 18. Schwangerschaftswoche, ist bei der Geburt vollständig ausgeprägt und wird ca. 6 Monate nach der Geburt integriert.
Erscheinungsbild:
Bei Kopfdrehung des Babys zu einer Seite streckt sich der gleichseitige Arm und das Bein reflexartig zur gleichen Seite. Die Gliedmaßen der gegenüberliegenden Seite werden gebeugt.
Sinn und Zweck des ATNR:
Im Mutterleib sorgt der Reflex für die Stimulierung des vestibulären Systems, sowie der Entwicklung des Muskeltonus. Gleichzeitig wird durch die ausgelöste Bewegung die vermehrte Bildung neuraler Verbindungen angeregt.
Während der Geburt trägt der ATNR zusammen mit anderen Reflexen dazu bei, dass das Kind eine aktive Rolle übernehmen kann und bei der Geburt mitarbeitet. Gleichzeitig wird der ATNR durch den Geburtsprozess verstärkt und ist nach der Geburt voll ausgebildet.
Dem Neugeborenen stellt er eine freie Atmung in Bauchlage sicher und verstärkt den Streckmuskeltonus, wobei er die Grundlage für spätere gezielte Greif - und Streckbewegungen bildet.
DeMyer beschreibt den Reflex wie folgt (1980) :
„.. erste Augen-Hand-Koordination, die stattfindet. Sie ist zu dem Zeitpunkt, an dem die visuelle Fixierung naher Gegenstände sich entwickelt, vorhanden, und es scheint, als ob das Nervensystem dafür sorgt, dass der richtige Arm auf den angepeilten Gegenstand ausgestreckt wird. Indem die Hand den Gegenstand berührt, werden die Grundlagen des Bewusstseins für die Entfernung (Armeslänge) sowie der Koordination von Augen und Händen gelegt.“ ( zitiert nach Sally Goddard Blythe 2011)
Bei einer nicht erfolgten Integration des ATNR werden dem Kind sämtliche Bewegungen, die ein Überkreuzen der Körpermittellinie erfordern, schwerfallen. Ein contralaterales Kriechen oder Krabbeln wird nicht gelingen, die Ausbildung der Händigkeit ausbleiben. Entwickelt sich jedoch keine Dominanz, kann es auch keine Spezialisierung geben. Bewegungen können so nicht automatisiert werden und bedürfen dann bewusster Entscheidungen. Das verhindert, dass höhere Hirnstrukturen für komplexeres Lernen zur Verfügung stehen.
Die „Barriere“, die ein rudimentär vorhandener ATNR zwischen den Körperhälften bildet, betrifft auch die visuelle Wahrnehmung. Waagrechte Augenbewegungen verlaufen nicht flüssig, was sich beim Lesen besonders zeigt. Auch das Schreiben ist betroffen. Sobald das Kind seinen Kopf dreht um mit den Augen dem Stift zu folgen, muss es aktiv gegen den Impuls, den Arm zu strecken und die Hand zu öffnen, ankämpfen. Der Druck wird erhöht, und die Schrift wird auffällig sein. Da das Kind einen Großteil seiner Kapazitäten benötigt, um den motorischen Prozess des Schreibens zu bewältigen, ist es nur schwer in der Lage, gleichzeitig kognitive Anforderungen zu erfüllen. So wird seine Fähigkeit, seine Gedanken schriftlich zu äußern, stark von der mündlichen Formulierung abweichen.
Der Moro- Reflex
Entsteht in der 9. Schwangerschaftswoche, ist bei der Geburt vollständig
vorhanden und wird zwischen dem 2. und 4. Lebensmonat integriert.
Erscheinungsbild:
Der Moro-Reflex beeinhaltet verschiedene aufeinanderfolgende Bewegungen. Er wird ausgelöst durch plötzliche, unerwartete Reize jeder Art ( vestibulär, visuell, auditiv oder taktil).
Auf den Reiz folgt ein rasches symmetrisches Auseinanderführen der Arme, mit Öffnung der Hände und kurzem Erstarren. Die Bewegung wird begleitet von plötzlichem Einatmen. Darauf folgt eine Adduktion, die Arme umschließen den Körper, begleitet von Ausatmen.
Der Moro-Reflex löst auf körperlicher Ebene folgende Veränderungen aus:
- Starke Erregung
- Aktivierung des sympathischen Nervensystems
- Freisetzung der Stresshormone Adrenalin und Cortisol
- Anstieg der Atemfrequenz
- Beschleunigung des Herzschlags
- Anstieg des Blutdrucks
- Rötung der Haut
- Eventuelle Gefühlsausbrüche wie Wut
Der Sinn und Zweck des Moro-Reflexes
In den ersten Lebensmonaten, wenn der Säugling die ihn umgebenden Sinneseindrücke noch nicht einordnen kann, dient der Moro-Reflex als eine Art Alarmsystem um Hilfe bei eventueller Bedrohung herbeizurufen. Außerdem ermöglicht er den ersten Atemzug und hilft, die Luftröhre zu öffnen.
Wird der Reflex nicht in den ersten vier Lebensmonaten gehemmt, wird das Kind zur Hypersensibilität neigen. Das Kind befindet sich ununterbrochen in Alarmbereitschaft und reagiert auf bestimmte Reize ausgesprochen stark.
Durch den Zustand erhöhter Wachsamkeit werden verstärkt Stresshormone ausgeschüttet, was die Sensibilität gegenüber Außenreizen noch weiter verstärkt. So entsteht ein Teufelskreis, mit dem umzugehen es für das Kind zwei Möglichkeiten gibt: Rückzug oder aggressives, überaktives Verhalten. So oder so, ein Kind mit persistirenden Moro-Reaktionen wird versuchen Situationen zu manipulieren, um die Kontrolle zu behalten und ein Mindestmaß an emotionaler Sicherheit zu wahren.
Adrenalin und Cortisol sind Teil der Abwehrstoffe des Körpers. Werden sie quasi ununterbrochen zu einem anderen Zweck produziert, stehen sie für ihre ursprüngliche Aufgabe eventuell nicht mehr oder nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung. Ein solches Kind kann dann besonders anfällig für Infektionskrankheiten oder Allergien sein.
Während der ersten Monate, in denen der Moro-Reflex noch aktiv ist, richtet sich die visuelle Aufmerksamkeit des Kindes auf äußere Umrisse, sowie Veränderungen des Lichts und plötzliche Bewegungen in der Umgebung. Wird der Reflex nicht integriert, fällt es ihm später schwer, die Aufmerksamkeit auf das Zentrum zu lenken und periphere visuelle Reize zu ignorieren. Seine visuelle Wahrnehmung bleibt stimulusgebunden. Das kann zu erhöhter Ablenkbarkeit führen.
Gleiches gilt für die auditive Wahrnehmung. Das Kind kann auditive Reize nicht gut diskriminieren und selektives Hören wird enorm schwer.
Der persistierende Moro-Reflex hat Auswirkungen auf die emotionale Entwicklung des Kindes. Es können große Unsicherheit, Ängstlichkeit, geringes Selbstwertgefühl, Schwierigkeiten, Kritik anzunehmen und Ähnliches entstehen.
Der Palmar-Reflex
Entsteht in der 11. Schwangerschaftswoche, ist bei der Geburt vollständig vorhanden und wird zwischen dem 2. und 3. Lebensmonat gehemmt. Er entwickelt sich schrittweise vom unwillkürlichen Greifen über das Loslassen zur Verfeinerung der Fingerkontrolle. Wird mit etwa 9 Monaten durch den Pinzettengriff abgelöst.
Erscheinungsbild:
Bei leichtem Druck auf die Handinnenflächen wird ein Greifreflex ausgelöst. Dabei schließen sich die ersten drei Finger (Kleiner Finger, Ring- und Mittelfinger ) zur Handfläche. Der Daumen wird zunächst nicht eingesetzt.
Der Palmar-Reflex kann neben dem taktilen Stimulus auch über Saugbewegungen ausgelöst werden (Babkin-Reaktion). Dabei macht das Baby im Rhythmus des Saugens knetende Bewegungen mit den Händen. Die Babkin-Reaktion zeigt den engen neurologischen Zusammenhang zwischen Hand- und Mundmotorik.
Sinn und Zweck des Palmar-Reflexes:
Evolutionsgeschichtlich stellte der Palmar-Reflex sicher, dass das Kind sich an die Mutter klammern konnte. Dabei ging es in erster Linie um sicheren Halt. Im Zuge der Hemmung des Reflexes entwickelt sich eine reife Fingermotorik, bei der der Daumen zusammen mit dem Zeigefinger den Pinzettengriff bildet. Das Lösen der Finger entwickelt sich etwas später und bedarf häufiger Wiederholungen bis sich eine gute manuelle Geschicklichkeit entwickelt hat.
Wird der Palmar-Reflex nicht gut integriert, zeigt sich eine geringe manuelle Geschicklichkeit, bei der das Fehlen des Pinzettengriffs und eine unzureichende Unabhängigkeit von Daumen und Fingern auffällt.
Das führt zu Schwierigkeiten vor allem beim Schreiben. Durch die anhaltende Babkin-Reaktion werden manuelle Tätigkeiten häufig von Mundbewegungen begleitet.
Der Tonische Labyrinthreflex (TLR)
Der Tonische Labyrinthreflex vorwärts entsteht im Mutterleib, ist bei der Geburt vorhanden und wird mit ca. drei Monaten gehemmt.
Der Tonische Labyrinthreflex rückwärts entsteht bei der Geburt und seine vollständige Hemmung kann bis zum dritten Lebensjahr dauern.
Erscheinungsbild:
TLR vorwärts: Das Baby wird in Rückenlage gehalten und der Kopf nach vorne geneigt. Überschreitet er die Mittellinie, beugt das Baby Arme und Beine und nimmt die fötale Beugehaltung ein.
TLR rückwärts: Wird der Kopf in Rückenlage nach hinten gebeugt, kommt es zu einer Streckung der Gliedmaßen nach außen.
Sinn und Zweck des TLR.
Der TLR ermöglicht dem Kind erste primitive Reaktionen auf die Schwerkraft. Vor der Geburt befand es sich in einer abgeschlossenen Umgebung, innerhalb derer es sensorische Reize und die Auswirkungen der Schwerkraft nur durch Wasser gedämpft erlebt hat. Durch die Reaktion, die der TLR auslöst, wird der gesamte Muskeltonus vom Kopf abwärts beeinflusst und legt so den Grundstein für eine gute Funktion der späteren Halte-und Stellreflexe. Der TLR rückwärts hilft dem Kind, sich aus seiner Neugeborenenhaltung zu strecken. Während seiner Aktivität stimuliert er gleichzeitig die Propriozeption, das Gleichgewicht und den Muskeltonus.
Über zunehmende Kopfkontrolle wird der TLR gehemmt. Geschieht das nicht, wird das Kind spätestens beim Erlernen des Laufens Schwierigkeiten mit der Schwerkraft zeigen, da jede Lageveränderung des Kopfes automatisch zu einer Veränderung des Muskeltonus führt. Aber schon das Krabbeln wird für ein solches Kind schwer, wenn nicht unmöglich werden, denn der Kopf wird dabei über die Mittellinie erhoben, während die Extremitäten gebeugt werden.
Auch die Funktion der Augen kann von einem anhaltenden TLR beeinflusst werden, da sie von demselben Regelkreis im Gehirn gesteuert werden, dem vestibulo-okularen Reflexbogen. Bei einer Störung innerhalb des Regelkreises werden automatisch auch die anderen, davon abhängigen Systeme beeinträchtigt. Balance und geringes Sehvermögen beeinflussen sich also gegenseitig.
Kinder, bei denen der TLR vorwärts rudimentär vorhanden ist, zeigen einen niedrigen Muskeltonus und einen gebeugten Rücken, da die Beugemuskeln aktiver sind. Außerdem zeigen sie vestibulär bedingte Auffälligkeiten wie Reiseübelkeit und einen schwach ausgeprägten Gleichgewichtssinn. Hinzu kommen visuelle und räumliche Wahrnehmungsstörungen.
Hingegen führt ein persistierender TLR rückwärts zu einer Erhöhung des Muskeltonus und damit zu ruckartigen, steifen Bewegungen. Häufig gehen die Kinder auf Zehenspitzen. Die Balance und Koordination sind schlecht ausgebildet. Auch hier zeigen sich visuelle Einschränkungen, sowie Schwierigkeiten bei der Einhaltung von Abfolgen und dem Erkennen von Einheiten.
Der Symmetrisch Tonische Nackenreflex (STNR)
Der Symmetrisch Tonische Nackenreflex ist bei der Geburt vorhanden und wird mit 8-11 Monaten gehemmt.
Erscheinungsbild:
Wie der TLR funktioniert auch der STNR in zwei Richtungen.
Hebung des Kopfes führt zu einer Beugung der Beine und Streckung der Arme.
Beugung des Kopfes hingegen bewirkt eine Beugung der Arme und eine Streckung der Beine.
Sinn und Zweck des STNR:
Der STNR ermöglicht es dem Kind, in eine aufrechtere Position zu kommen. Interessanterweise tritt er sehr früh einmal kurz in Erscheinung, nämlich gleich nach der Geburt, wo er zusammen mit dem, ebenfalls nur kurz vorhandenen Schreitreflex, dem Kind hilft, den Weg zur Brust der Mutter zurückzulegen. Diese Notwendigkeit ist evolutionsgeschichtlich vorhanden. Babys, deren Mütter während der Geburt Schmerzmittel erhalten haben, zeigen diese Reaktion nicht. Es wird vermutet, dass sie zu müde sind.
Im Alter von etwa acht Monaten tritt der STNR erneut auf und fungiert als eine Art Brücke zwischen dem TLR und der nächten Fortbewegungsstufe, dem Krabbeln. Er hilft dem Kind, sich in die Ausgangsposition zum Krabbeln zu bringen, verhindert aber noch, dass es sich in dieser Haltung bewegen kann. Um in Bewegung zu kommen, muss er gehemmt werden. Es wird vermutet, dass die Schaukelbewegungen, die viele Kinder zeigen, bevor sie loskrabbeln, zu einer Synchronisation der beiden Körperhälften und damit zur Hemmung des STNR beiträgt.
Außerdem spielt der STNR eine wichtige Rolle bei der Vervollständigung des Trainings der visuellen Wahrnehmung. Der ATNR beginnt, die Sehweite des Kindes zunächst Armeslänge und dann auf entfernte Gegenstände auszudehnen ( s. dort). Mit dem Einsetzen des STNR wird der Wechsel zwischen Weit- und Nahsehen (Akkomodation) trainiert, jeweils mit Heben oder Senken des Kopfes über oder unter die Wirbelsäulenlinie.
Kinder, deren STNR nicht gehemmt wird, kommen nicht zu einem koordinierten Krabbeln, sie bewegen sich häufig im Bärengang oder auf dem Po rutschend vorwärts. Manchmal bleibt auch das aus, und sie ziehen sich einfach hoch und laufen gleich.
Damit fehlt ihnen eine entscheidende Phase, denn das Krabbeln ist eines der wichtigsten Bewegungsmuster in der kindlichen Entwicklung.
Die Augen des Kindes lernen dabei das Überkreuzen der Mittellinie. Durch die diagonale Bewegung fokussiert das Auge von einer Hand zur anderen. Diese Fähigkeit ist eine Voraussetzung zum Lesen und Schreiben.
Beim Lesen müssen die Wörter über die Mitte der Zeile hinaus verfolgt werden können, ohne sie zu verlieren. Beim Schreiben folgt der Blick der sich bewegenden Hand, ebenfalls über die Körpermitte hinaus.
Das Krabbeln trainiert effektiv die Auge-Hand-Koordination, und bringt außerdem zum ersten Mal das vestibuläre, propriozeptive und das visuelle System in Zusammenarbeit. Diese Integration ist die Voraussetzung für eine gute Entwicklung von Gleichgewichtssinn und Raum- und Tiefenwahrnehmung.
Kinder mit rudimentär vorhandenem STNR können Schwierigkeiten mit der Arbeitshaltung am Tisch haben. Das Senken des Kopfes auf das Blatt führt zu einem Strecken der Beine. Dadurch kann die Aufmerksamkeit erheblich beeinträchtigt werden, da ihnen die Aufrechterhaltung der Sitzposition schwerfällt.
Das Abschreiben, vor allem von der Tafel, geht nur langsam und unter Schwierigkeiten, da die ständige Akkommodation dem Kind sehr schwer fällt.