Sensorische Integration
Die erste Reaktion auf meine Aussage „ Ich arbeite pferdegestützt“ ist in den meisten Fällen die gleiche. Irritation, Verwirrung, kurz ein großes Fragezeichen. Ergotherapie mit Pferd können sich die meisten noch vorstellen, aber Logopädie? Das ist doch Sprache, wie soll das denn mit Pferden gehen? Und dann stehe ich vor der großen Aufgabe, ein komplexes, ein äußerst komplexes Thema knapp und verständlich zu erklären. Über die engen Zusammenhänge aller Bereiche kindlicher Entwicklung. Über die besondere Verknüpfung der Hand-und Fußmotorik mit der Mundmotorik. Über Gleichgewicht und auditive Wahrnehmung. Über Kinästhesie und Merkspanne. Und so weiter und so fort. Sie sehen schon, es geht eigentlich nicht wirklich kurz. Deshalb finden Sie hier etwas ausführlichere Informationen zur kindlichen Entwicklung und zur sensorischen Integration.
Der Sinn ist es, ein umfassendes Bild zu zeichnen, das klar zeigt, wie sehr sich Bereiche, von denen man es zunächst vielleicht erst mal nicht annimmt, untereinander beeinflussen und welche Wechselwirkung sie auf jede individuelle Entwicklung haben.
Sind diese Zusammenhänge klar, beantwortet sich die Frage - warum ein Pferd? - fast von alleine.
Sensorische Integration
Sensorische Integration ist ein hochkomplexes Thema, das hier nur in Kürze aufgegriffen wird. Sie bildet jedoch die Basis der kindlichen Entwicklung und ist häufig der Grund für Entwicklungs - oder Verhaltensstörungen. Je intensiver wir uns mit dem Thema beschäftigen, desto klarer wird, dass auch wir als Logopäden mehr als nur oberflächliche Kenntnisse zu diesem Thema haben sollten, denn es zeigt sich ganz klar, warum ein ganzheitlicher Ansatz unter Einbeziehung motorischer und sensorischer Förderung sinnvoll und nötig ist.
Der Begriff der sensorischen Integration begegnet uns zwangsläufig, wenn wir uns ernsthaft mit kindlicher Entwicklung und Lernen beschäftigen. Sie bildet die Grundlage aus der die Fähigkeit zum Lernen überhaupt erst entsteht. Ohne eine gelungene sensorische Integration werden komplexe kognitive Vorgänge, wie zum Beispiel das Lesen, immer mit Schwierigkeiten verbunden sein, denn sie sind dann geprägt von Kompensation. Ein Kind, dessen Integration nur unzureichend gelungen ist, wird auf die eine oder andere Weise in seinem Lernen oder Verhalten eingeschränkt sein.
Das neugeborene Kind hat ohne Zweifel eine ganze Menge zu lernen, wenn es in der Welt zurecht kommen soll. Die Voraussetzung, um sich zu einem handelnden, selbstbewussten Individuum zu entwickeln, ist zunächst einmal das Wissen über die Fähigkeiten und Grenzen seines eigenen Körpers. Es muss die Gelegenheit erhalten, sich als handelndes Wesen zu erfahren und seine Fähigkeiten zu erproben und zu verfeinern. Nur so lernt es, sich einzuschätzen, ein „ Selbstbewusstsein“ im wahrsten Sinne zu entwickeln. Dies geschieht über eine Abgrenzung gegenüber der Umwelt, und später, daraus entstehend, einer Beziehungsaufnahme mit ihr.
Was ist nun nötig, sich selbst als eigenständiges Wesen zu erfahren?
Von Natur aus liegt uns der Drang inne, uns zu bewegen, zu entwickeln und zu lernen. Bewegung ist es, die den Unterschied zwischen Belebtem und Unbelebtem ausmacht.
Ein Kind empfindet durch Bewegung und damit der Stimulation seiner Sinne, Freude und wird bestrebt sein, diese Stimulation zu erhalten und zu entwickeln. Die ersten Lebensjahre dienen dem Erfahren des Selbst, der Verarbeitung von Sinnesreizen und dem Beherrschen des Körpers, mit dem Zweck, den Grundstein für späteres abstraktes Lernen zu legen.
Es ist daher für die kindliche Entwicklung enorm wichtig, dass dem Kind genügend Zeit und Raum und im Zweifel Förderung zu Teil werden, um diese entscheidenden Schritte individuell absolvieren zu können.
Die frühkindlichen Reflexe
Im frühesten Kindesalter führt das Kind noch keine geplanten Bewegungen aus, es trainiert seinen Körper vielmehr über unwillkürlich ausgelöste Bewegungsmuster, die sogenannten frühkindlichen Reflexe. Deren Sinn besteht im Training von Bewegungen, die für die spätere Entwicklung relevant sind. So übt zum Beispiel der Asymmetrische Tonische Nackenreflex unter anderem eine funktionierende Hand-Auge-Koordination, sowie das scharfe Sehen in kurzer Distanz. Im Laufe der Zeit werden diese Reflexe mehr und mehr integriert, das bedeutet, es entwickeln sich willkürlich gesteuerte Bewegungen, die in höheren Hirnstrukturen gespeichert werden und die Reflexe überlagern. Sie sind nicht verschwunden, nur ersetzt. Das zeigt sich bei Menschen, die durch Unfälle oder neurologische Erkrankungen Hirnschädigungen erfahren. Dort treten die frühkindlichen Reflexe wieder zu Tage.
Eine unvollständige Integration kann die Entwicklung beeinträchtigen, da das Kind ständig damit beschäftigt ist, gegen die noch vorhandenen Restreaktionen anzukämpfen.
Die Integration der Sinne
Die erste Begegnung mit der Umwelt findet über die Basissinne (n. J.Ayres) des Kindes statt. Taktil, propriozeptiv und vestibulär erfährt es zunächst Veränderungen in seinem Muskeltonus, seiner Lage im Raum und im Kontakt mit seinem Körper. Es wird konfrontiert mit einer Flut an Information, die ihm über Rezeptoren an den Sinnesorganen über die sensorischen Neuronen vermittelt werden. So gelangen sie ins Schaltzentrum des Körpers, dem Gehirn. Dort werden sie verarbeitet und über die motorischen Neuronen ergehen Befehle zurück in den Körper, der daraufhin eine Reaktion ausführt.
Der Eingang an Sinnesinformation ist permanent vorhanden und essentiell für unser Sein und die Arbeit unseres Gehirns. Bei der riesigen Menge an „Eingangsdaten“ ist klar, dass die Verarbeitung möglichst reibungslos funktionieren sollte. Um das gewährleisten zu können, müssen die Neuronen ( J.Ayres nennt sie „ Datenautobahn“) zunächst einmal trainiert werden.
Erfahren sie einen Reiz, bilden sie Synapsen, über die sie ihn weiterleiten. Je öfter ein Reiz eingeht, desto besser und vielseitiger die Verknüpfungen. Auch führen Reize zu einer Myelenisierung, was die Weiterleitung beschleunigt.
Man kann es sich ein bisschen vorstellen, wie in einem Wald. Um von A nach B zu gelangen, werden Pfade angelegt. Je öfter der gleiche Pfad begangen wird, desto breiter und gangbarer wird er, das Ziel wird so schneller erreicht (Myelenisierung). Je mehr Pfade im Wald sind, desto mehr Abzweigungen entstehen, die die Wege verkürzen können und miteinander verbinden um schneller zum richtigen Ziel zu führen (Synapsenbildung) .
Je schneller die Information zu ihrem Ziel gelangt, desto besser für die weitere Verarbeitung. Da durch Beanspruchung neue Synapsen entstehen, ist es also von großer Bedeutung, wie stark das Kind in dieser frühen Phase angeregt wird. Je mehr Reize es zur Verarbeitung erhält, desto mehr neuronale Verknüpfungen werden sich bilden, was es ihm später ermöglicht, sich besser und differenzierter auf neue Situationen einzustellen und bekannten Situationen automatisiert zu begegnen. Ayres spricht von den Sinnesreizen als der „ Nahrung für das Gehirn“
Die Sensorische Integration findet auf vier Ebene statt, der neuralen, der sensorischen, der kognitiven und der motorischen Ebene. Diese stehen untereinander in Verbindung und beeinflussen sich gegenseitig.
1. Neurale Ebene
Die frühkindlichen Reflexe spielen eine wichtige Rolle in der Entwicklung und haben jeder für sich eine bestimmte Funktion. Sie sind die Basis, aus der sich feinere und automatisierte Bewegungen und Handlungen entwickeln.
Haben sie ihren Zweck, nämlich den des „Trainings“ erfüllt, sollten sie integriert oder transformiert werden, um höheren Nervenstrukturen Platz zu machen, die es dem Kind ermöglichen, willentliche und gezielte Aktionen auszuführen. Gelingt dies nicht oder nur unvollständig, wird die Reifung des zentralen Nervensystems und damit die weitere Entwicklung eingeschränkt und verzögert. Das Kind muss weiterhin auf subkortikal gesteuerte Bewegungsmuster zurückgreifen und kann effektivere nicht oder nur unzureichend entwickeln.
Im logopädischen Kontext ist interessant, dass Kinder mit zentralen Hörstörungen häufig persistierende Nackenreflexe, sowie Einschränkungen der Rumpfrotation und dem Überkreuzen der Körpermitte aufweisen.
Weiterhin gibt es erste Studien zum Zusammenhang von Lese- Rechtschreibstörungen mit motorischen und Gleichgewichtsdefiziten. Hier wurde besonders die unzureichende Integration des ATNR untersucht, der eng an das Gleichgewicht gekoppelt ist. Ergebnisse der Studie sind nachzulesen in „Sensorische Integration“ G. Kesper.
2. Sensorische Ebene
Die sensorische Ebene ist quasi die Schaltstelle der Informationen, die über die Sinnesorgane eingehen. Sie werden geordnet, koordiniert, gehemmt oder verstärkt und an den zuständigen Teil im Gehirn weitergeleitet. Von dort ergeht ein Befehl an die zuständigen Muskeln und eine motorische Reaktion kann erfolgen.
Sinnliche Informationen werden gespeichert und dienen so der Wahrnehmungsdifferenzierung. Damit bilden sie die Grundlage für das Selbstbewusstsein im eigentlichen Sinne. Nur wenn die eingehenden Reize zugeordnet und verarbeitet werden können, ist es möglich, ein klares Bild zunächst von sich selbst und im Verlauf von sich selbst im Kontext zu seiner Umwelt zu erhalten.
Auf dieser Fähigkeit basieren Kommunikation und das, was wir als emotionale Intelligenz bezeichnen.
Das taktile, das vestibuläre und das propriozeptive System bilden dabei die drei basalen sensorischen Systeme. Sie gewährleisten, dass wir uns im Raum zurechtfinden, Informationen über jeden Teil unseres Körpers erhalten
- auch wenn wir ihn nicht sehen - und in Kontakt mit der Umwelt treten können.
Das vestibuläre System sorgt für einen Austausch aller Sinneseindrücke zwischen Gehirn und Körper. Damit wirken sich Gleichgewichtsprobleme auf viele andere Funktionen aus. Eine direkte Verknüpfung mit dem Hören über den achten Hirnnerv ist vor allem für die logopädische Arbeit von Bedeutung. Auch bei Kindern, die emotional „aus dem Gleichgewicht“ zu sein scheinen und häufigen Stimmungsschwankungen unterliegen, sollte das vestibuläre System überprüft werden.
Das taktile System bildet die Grundlage sozialer Beziehungen. Über unser Tastempfinden nehmen wir Kontakt zur Welt auf und treten mit ihr in Beziehung. Bleibt eine taktile Stimulation aus, führt dieser Mangel im fortgeschrittenen Stadium zu Deprivation und Hospitalismus.
Taktil sehr sensible Kinder haben ein stark erhöhtes Schmerzempfinden und reagieren sehr heftig auf Berührung, während hyposensible Kinder Schmerz gegenüber unempfindlich sind und im Umgang mit anderen durch Heftigkeit und vermeintliche Aggression auffallen.
Über das kinästhetische System erhält unser Körper Rückmeldung über die Stellung der Gelenke zueinander und den Muskeltonus. Es ermöglicht uns, ein Selbstbewusstsein im wahrsten Sinne zu entwickeln und uns im Raum zurechtzufinden, sowie die eingesetzte Kraft angemessen zu dosieren.
Automatisierung von Bewegungsfolgen, Rhythmus und Reihenfolgen sind Teil der Kinästhesie. Außerdem bringt sie unsere Gefühle nach außen. Unsere Mimik und Gestik, Haltung und Atmung verraten unwillkürlich sehr viel darüber, wie es in uns aussieht. Eine auffallend ausdruckslose Mimik, verringerte Gestik und ein wenig abwechslungsreiches Spielverhalten sind Anzeichen für eine kinästhetische Störung, ebenso wie eine schlechte Merkfähigkeit und langsame Automatisierungsprozesse.
3. Kognitive Ebene
Als Kognition bezeichnen wir die Interpretation von Informationen und die daraus entstehenden angepassten und zielgerichteten Handlungen.
Eine gute sensorische Integration sorgt in Abhängigkeit von Veranlagung und Begabung für die Entstehung der kognitiven Stützfunktionen. Dazu zählen neben Gedächtnis und Konzentration auch die Bildung räumlicher, zeitlicher und vornumerischer Kategorien. Sie sind die unverzichtbaren Voraussetzungen für späteres Lesen, Schreiben und Rechnen.
Das Gehirn bildet Lern-und Problemlösungsstrategien aufgrund seiner bisher gemachten sinnlichen Erfahrungen. Je besser und flexibler es auf verschiedene Situationen reagieren kann, also, je besser es auf bisher gemachte Erfahrungen zurückgreifen kann, desto besser wird die Fähigkeit zu lernen ausgeprägt werden.
4. Motorische Ebene
Auf der motorischen Ebene findet die Vermittlung zwischen allen Ebenen und der Umwelt statt. Sie bildet die Basis der Kommunikation und meint das Zusammenspiel von Mimik, Gestik, Haltung, Schrift und Sprache.
Eine gute sensorische Integration zeichnet sich durch ein variables motorisches Verhalten aus.
Antrieb und Neugier zur Exploration können nur dann entstehen und befriedigt werden, wenn die motorische Entwicklung störungsfrei verläuft.
Bestätigung des Umfeldes verhelfen dem Kind zu einem Erfolgserlebnis und es wird mutig und motiviert Neues erkunden. In diesem Prozess macht es differenzierte Erfahrungen, die es benötigt, um bei der Einordnung und Planung seiner Handlungen möglichst viele verschiedene Optionen zu erhalten.
Die zu durchlaufenden Bewegungsmuster sind für alle Kinder die gleichen, doch ihr zeitlicher Verlauf kann große individuelle Unterschiede aufweisen.
Sind die Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt, verlangsamt sich die Entwicklung der Wahrnehmung und der Sprache. Sie kann zu unangemessenem Verhalten und wenig Flexibilität in unbekannten Situationen führen. Die Assoziationsfähigkeit und somit die geistige Beweglichkeit wird eingeschränkt.
Wer das Thema vertiefen möchte, findet unter der Rubrik „ Literatur“ einige Empfehlungen.